[Theorie]

 
Was ist Architektur? Versuch zur Beantwortung einer alten Frage
Die Architektur gilt nach dem heutigen Erkenntnisstand als Kunst, das Bauwerk als Kunstwerk, das zugleich materielle Zwecke erfüllt. Bauen wird also einerseits als rein geistige Betätigung betrachtet, welche ästhetische, allein für die Anschauung gedachte Formkomplexe hervorbringt; andererseits soll das Bauen praktischen Zwecken dienen – und diese zugleich „übersteigen“. Mit dieser Doppeldeutigkeit hat sich die bürgerliche Architekturtheorie immer begnügt – und lässt sich daran als solche erkennen. Wie der Bürger sich selbst in ein ideelles und ein materielles „Ich“ teilte, aufgespalten in das Hohe und das Niedrige, in das Reine, Engelhafte und das Schmutzige, Tierische, in das eigentlich Sinnvolle und das leider Notwendige, so auch die Architektur. Heute bescheiden sich Forscherinnen und Forscher meist damit, dem einen wie dem anderen Bereich sein relatives Recht zuzugestehen – weil niemand im akademischen Betrieb auf Klarstellung drängt. Nur ist damit Architektur nicht erklärt, nicht einmal „definiert“, wenn darunter die Abgrenzung von der Bildenden Kunst oder der Technik verstanden wird. Die Fixierung auf die Kunstästhetik versperrt zudem den Zugang zur funktionalistischen Architektur: Sind Bauten ohne die Zutat der Bildenden Kunst, und sei es als Ornament, überhaupt noch Baukunst?

Eine Theorie der Architektur, die diesen Namen verdient, muss daher ihren Gegenstand in historischer Hinsicht wie auch systematisch umfassen, muss von den Pyramiden bis zum Montagebau der Wohntypenserie P 2, vom Tempel bis zum Transformatorenhaus reichen und an ihnen das Besondere wie das Gemeinsame nachweisen. Ein solches Unternehmen sollte keine akademische Abhandlung sein, langatmige Darlegungen der Geschichte der Architekturtheorie also vermeiden und stattdessen frisch auf den markantesten Baubeispielen aus drei Jahrtausenden Geschichte „aufbauen“. Ich plane deshalb die Darlegung als Folge von Dialogen zu bringen, eine Anregung des Dichters Paul Ernst frei benutzend. Wenn eine erdachte Person neue (oder neu gefundene) Gedanken vorbringt und ihr darauf eine andere mit Einwänden kommt, die Berücksichtigung verlangen, können Leserinnen und Lesern leichter nachvollziehen, wie aus Meinungen Erkenntnisse werden. Die Form des „klassischen“ Dialogs ist aber nicht nur aus didaktischen Gründen vorteilhaft; sie lässt die geklärten Probleme leichter von den ungeklärten, die beantworteten oder die auf das Spätere verschobenen Fragestellungen von den gänzlich verworfenen unterscheiden. Erstrebt wird, die Entwicklung der Gedanken im Widerstreit erkennbar zu machen.

Der erste Teil der Darlegung wird unter dem Titel „Kunst und Architektur“ stehen und hat die Abgrenzung der architektonischen Phänomene von denen der bildenden und darstellenden Kunst zum Inhalt. Im Streitgespräch wird an einer Vielzahl von historischen und gegenwärtigen Beispielen aufgezeigt, inwieweit sich die architektonische Wirkung von der der Kunstwerke, von den Darstellungen der Malerei, der Plastik und des Theaters und speziell von der Wirkung der Musik unterscheidet. Die Debatte konzentriert sich dabei immer mehr auf den architektonischen Raum als relationalen Begriff. – Das Ergebnis erscheint als rein negatives, insofern hier geklärt wird, was Architektur nicht ist. Dennoch kommen in dem Bezug auf die diversen kunstästhetischen Gestaltungen einige Eigenschaften der Architektur zur Sprache. Eine „Ästhetik der Architektur“ ist damit bereits begründet, wenngleich noch nicht durchgeführt.

Der zweite Dialog trägt den Arbeitstitel „Die architektonische Form“, weil er dazu dienen soll, die Spezifik der Formgestaltung im Bauen klarzulegen. Der tektonische Charakter der Formen wird an einer Vielzahl von Beispielen herausgearbeitet (Zeigen, dass dies kein tautologischer Begriff ist!). Hauptthema ist hier das Ineinander von Raum und Funktion, das erklärt, warum die Formen der Fassaden, die der Konstruktionen und die der inneren Raumgestaltung im Bauwerk untrennbar verbunden sind und gemeinsam seine Gestaltung ausmachen. Dabei nimmt die Behandlung der „baubezogenen Kunst“, der Ornamente und der „Strukturen“ (in der modernen Architektur) Auseinandersetzungen des ersten Gesprächs auf und reflektiert sie zugleich: Der „Inhalt“ der Formen, speziell bei Linken beliebt, erfährt als Allgemeinbegriff seine dialektische Negation – die Ausdruckswerte der Architektur werden strikt von den Darstellungswerten der Kunst geschieden. Dargelegt wird also, warum die Wirkung der Bauten in der ihrer Formen selbst begründet ist und welche Effekte, welche Eindrücke das jeweilige Verhältnis von Teil und Ganzem vermitteln kann. Aus dem notwendigen Zusammenhang von Funktionserfüllung und Ausdrucksform ist damit eine systematische Erklärung der Architektur gegeben. Ihr fehlt „nur noch“ die historische Verallgemeinerung.

Unter dem provisorischen Arbeitstitel „Der Funktionalismus – Ende oder Vollendung der Architektur?“ soll im dritten Dialog die Frage nach der geschichtlichen Einheit der Architektur beantwortet werden. Der Streit geht von der Situation nach dem „Ende der Moderne“ aus. Die Kontrahenten diskutieren über die Befürchtung, dass der Funktionalismus, Angstgegner aller Idealisten, mit seiner „Reduzierung der Gestaltung aufs Technische und Zweckhafte“ die Geschichte der Architektur abgeschnitten habe. Das wird verneint, doch ohne Trost: Mit dem „neuen Bauen“ kam die Architektur auf neue Art zu ihrer Qualität. In dem Prinzip des Gleichgewichts aller Bauteile und Raumwidmungen, ohne jede Über- und Unterordnung, formierte sich das Bauen erstmals frei und ingeniös, was die historischen und historisierenden Stile selbst als „Sonderfall“ historisierte. Ihre Zeugnisse konnten deshalb in der Moderne erkannt, erhalten und dem Eigenen kontrastiert gegenübergestellt werden, ohne Anpassungszwang.
Dem hatte die Postmoderne mit ihren posthumanen „neuen Werten“ kaum etwas entgegenzusetzen. Sie hat vielmehr den Funktionalismus historisch gemacht und damit endgültig in der Architekturgeschichte verankert. Der Neohistorismus, der die alte Baukunst verehrt, den Funktionalismus fanatisch hasst, den Modernismus aber als Argument benutzt, erweist sich darin als das letzte völlig Neue. So vollzieht, wer sich stets dem dialektischen Denken verweigerte, die reale Dialektik der (Rück-)Entwicklung nach.

Das Projekt der Architekturdialoge versucht, im „Aufsteigen zum Konkreten“ die historische Erkenntnis zu fördern. Dazu gehört der Einbezug aller prinzipiell wichtigen Gestaltungen, gerade wenn sie einander so konträr gegenüberstehen wie die expressive Architektur im Deutschland der zwanziger Jahre dem Neuen Bauen (s. „Ideen“). Nur die Realanalyse des Baugeschehens, der öffentlich ausgetragenen Konflikte macht Architekturtendenzen erklärbar, und wer das zufällig Ungeliebte ignoriert, verleugnet die unhintergehbare Einheit der Gegensätze in der Entwicklung der Architektur.
Sicher kann die Form des Dialogs fiktiver Personen den Verdacht einer bloß subjektiv zugespitzten Argumentation wecken, und manche(r) wird mir verargen, dass ich den Gegner nach meinem Pfeil zurechtschnitze. Die Texte werden von den Leserinnen und Lesern dieselbe kritische Offenheit verlangen, mit der ich mich ihnen widmen will. Dabei steht es keineswegs fest, dass diese „Science fiction“ noch passend zum Jahr 2020 fertiggeschrieben sein wird. Schon die Ankündigung des Projekts ist also als eine Unverschämtheit zu betrachten, die sich „am Ende“ nur durch eins legitimieren kann: durch ihren Erkenntniswert.